Der Regen prasselte sanft auf die schwarze Kapuze seines Mantels und den daraus hervorstehenden grauen Teil seiner Cap, die mit ihrem dunkelblauen Teil einen perfekten Kontrast zu seinem blonden Haar bot. Darauf war ein runder Annäher aufgebracht, Tokyo 35.69 139.69 Japan.
Diese Cap hatte etwas besonderes an sich, sie kam nur durch einen seltsamen Zufall in sein Leben. Eines Tages, als er gerade auf dem Weg zur Bahn war, tief in Gedanken darüber wie sehr er diese Arbeitsstelle doch hasste und wie froh er jetzt darüber war endlich drei Stunden nach Hause zu pendeln, nur um sich ins Bett zu legen und zu wissen, dass der selbe beschissene Tag wieder auf ihn wartete, lag sie da. Irgendwo am Rande eines Weges, den er all die Monate zuvor gemieden hatte, da hier ständig Junkies und die klassischen Großstadtidioten rumlungerten. Aber an diesem Tag war es schon so spät, Hundemüde von den Überstunden und der Weg einfach zu praktikabel um außen herum zu gehen. Er überlegte noch, ob er sie einfach liegen lassen sollte, es war ja offensichtlich, dass sie jemand verloren hatte, bei seinem Glück war sie vermutlich noch mit Flöhen oder Uran verseucht. „Was solls“, er packte sie, fand die richtige Größe, setzte sie fachgerecht auf und begann einen Spurt um noch rechtzeitig die Bahn zu erwischen. Völlig außer Atem und keine zehn Sekunden zu spät setzte er sich zwischen dem klassischen Metrosexuellen und einer Gruppe Jugendlicher nieder.
Der viel zu schwache ruf seiner Lunge, vielleicht doch endlich mal weniger zu rauchen, ging irgendwo zwischen dem rattern der Gleise und dem viel zu lauten Gespräch der Kids unter. „Alter, ich hab mich am Wochenende so weggeschossen, ich weiß nix mehr“, gefolgt von einem „Ja Mann, ich hab dich noch kotzen sehen aber dann weiß ich auch kaum noch was“ und einem tiefen Seufzen. Er fragte sich oft, ob er etwas in seiner Jugend verpasst hatte, aber desto öfter er solche Gespräche mithören durfte, was viel zu oft vorkam, wurde ihm immer mehr bewusst, dass Alkohol eindeutig Gehirnzellen angreift und es nichts zu bedauern gibt. Belustigt und gleichzeitig angewidert durch die Ansammlung purer Dummheit an seiner Seite, verging die Zeit schneller als sonst, eine metallische Stimme ertönte: „Hauptbahnhof – Central Station – please exit the train on the right“. 45 Minuten waren vergangen, ab in die nächste Tortur, quer durch den Bahnhof rennen samt Rucksack. Die Menschen hier hätten auch genauso graue Strichmännchen sein können, alle sahen gleich aus, man erkannte niemanden wieder und ein Lächeln auf irgendeinem Gesicht suchte man vergebens, alle strömten sie in verschiedene Richtungen auf der Suche nach irgendwas, jeder für sich. Schon nach wenigen Metern wurde ihm klar, dass rennen einfach nicht sein Ding war, die dicke Winterjacke und das ständige ausweichen machte es nicht angenehmer. Rolltreppe? Keine Zeit. Stufe für Stufe fürchtete er, dass sein Herz da bald einfach keinen Bock mehr drauf haben wird. Die kühle Luft der Haupthalle strömte ihm entgegen, Gleis 24 leer. „Was? Wieso?“. Er vergewisserte sich, ja, der Zug sollte eigentlich erst in wenigen Minuten abfahren. Die Anzeigetafel klärte ihn auf, aus Gründen musste er einen anderen Zug verwenden, 4 Gleise weiter, Abfahrt in einer Minute. Der Endspurt begann. Die Vorfreude, seinem Herz in Ruhe beim Kollabieren zuzuhören, wurde schnell erdrückt. Dieses Meisterwerk deutscher Ingenieurskunst fuhr direkt in die nächste Großstadt, dahingehend waren die Sitzplätze etwas ausgelastet und etwas bedeutete in diesem Fall zu 175%, was zwar schön aus dem Mund des Schaffners klang, aber in Realität glich dieser rot-weiße Metallkasten weniger einem Transportmittel, als einer sich viel zu schnell bewegenden Marlboro Schachtel. Er zwängte sich so gut es ging in die Menge, es sah von außen schon scheiße aus, aber brechend voll war eine klare Untertreibung. Der fehlende Sauerstoff in der Luft verbesserte seinen Zustand nicht gerade, aber wenigstens konnte er sich sobald die Türen schließen anlehnen und müsste nicht krampfhaft versuchen gerade zu stehen um ja niemanden zu bedrängen. Eine Durchsage ertönte, „Bitte alle von den Lichtschranken zurücktreten!“, leichter gesagt als getan, die Menge drängte sich noch näher zusammen.
Hier und da wurde der Unmut über die Situation lautstark verkündet, aber es half alles nichts, prinzipiell wollte jeder hier das gleiche, nur noch schnell hier wieder raus. Die Tür hinter ihm schloss sich und er konnte endlich wieder auf die gelbe Linie treten. Scheinbar klappte das nicht überall, denn es kamen weitere, immer wütendere Durchsagen. Ihm war das egal, er wusste ja, dass es nichts bringt sich aufzuregen, er verbrachte seine Zeit lieber damit die Grau-in-Grau-Menschen anzustarren. Es war so unverständlich, wieso erkannte er nichts Besonderes in irgendeinem von ihnen? In dieser Stadt wirkte alles so unfassbar gleich, vor dieser Scheibe lief alles rum, vom Penner bis hin zum Topmodel, aber es änderte nichts, er hatte alles schon einmal gesehen, die Einzigartigkeit ging einfach irgendwie verloren. „Wer bist du?“.
Farbe spazierte den grauen Gleis entlang, ein Klecks aus Braun, Rot, Schwarz und Weiß. Ihr braunes Haar saß fest unter ihrem Cap, sodass ihr nicht eine Strähne ihres Haars ins Gesicht hang, links und rechts floss es ihr wie Seide über die Schultern, die von einer Lederjacke bedeckt waren. Ein dunkelrotes Kleid, glitt ihr am Körper entlang und schwang seine Kurven. Der perfekte Mix aus Elegants und Anders wurde durch ihre vollbemalten Chucks nur noch besser unterstrichen. Sie blieb direkt vor ihm stehen und versuchte die Tür zu öffnen, leider vergebens. Jeder normale Mensch wäre ausgeflippt einen Zug zu verpassen der nur alle Stunde abfährt, aber nicht sie. Er erkannte wieso. Er blickte in ihre braunen, beinahe schwarzen Glubschaugen und sah absolut nichts, keinen Funken Emotion oder Gefühl, es war als würde er eine leere Hülle ansehen. Alle die Grauen die er Tag ein Tag aus ansah, hatten irgendetwas in ihren Augen, sei es Wut, Freude, Liebe oder Stress, aber hier war nichts. Ein unglaublicher Drang kam in ihm hoch, er wollte unbedingt, dass sie für ihn lächelt. Grimassen schneiden?
Kommt vermutlich unheimlich. Sie umarmen? Diese verdammten Türen gehen nicht mehr auf. Irgendetwas doofes auf dem Handy zeigen? Er konnte nicht einmal vernünftig Atmen, geschweige denn an seine Tasche kommen. „Verdammt“, ihm fiel einfach nichts ein. Verloren in Gedanken bemerkte er nicht, dass sie begonnen hatte ihn anzusehen. Sie blickte ihm tief in die Augen, keine Regung, als wäre er auch nur einer unter den tausend Anderen, die es nicht interessiert was mit den Menschen um ihnen herum passiert. Aber das war er noch nie und wird er niemals sein, es bereitete ihm beinahe Schmerzen mit diesem gleichgültigen Blick angesehen zu werden, derselbe Blick den er nur zugut aus dem Spiegel kannte. Ein breites Grinsen formte sich auf seinen Wangen, seine Zunge zwängte sich durch die Reihen noch weißer Zähne. Es war ihm egal, ob ihn irgendwer für Verrückt hält, er wollte nur irgendeine Reaktion von ihr. „Ha!“, schrie er und deutete mit dem Finger auf sie. Da war etwas, für den Hauch einer Sekunde konnte er ein Lächeln erkennen. Er grinste nun noch breiter, dass ungefähr acht Leute ihn verdutzt anguckten bemerkte er gar nicht. Der Versuch war ihm geglückt, jetzt wusste er wenigstens, dass da kein Roboter vor der Scheibe stand, es war aber nicht genug.
Mit seinem Atem beschlug er die Scheibe, überlegte kurz, sah sie an, fasste einen Entschluss und schrieb „Smile“ spiegelverkehrt. Es war zwar kein Lächeln aber wenigstens reagierte sie darauf, ihre Augenbrauen kniffen sich zusammen, als würde sie ihn fragen wollen was das Ganze soll und schüttelte resignierend den Kopf. So leicht gab er aber nicht auf, ein weiterer Hauch und ein kurzes „pls?“ zierte das Fenster.
Ihr nachdenklicher Blick traf sich mit seinem hoffnungsvollen, es war als würde sie nicht wissen was sie jetzt genau tun sollte. Sie schüttelte wieder den Kopf. Etwas kochte in ihm auf. Das erste Mal seit Monaten versuchte er jemanden zum Lachen zu bringen, seine schlechte Laune nicht an alles und jedem auszulassen und wieder einmal er selbst zu sein, dann sowas. Das Grinsen wich davon und wandelte sich wieder in einen kalten, emotionslosen Gesichtsausdruck, lediglich seine Augen zeigten das seltsame Gemisch aus Wut und Traurigkeit gegenüber dieser Situation. Ihr Blick ging Richtung Boden, hatte sie Verstanden was sie getan hat? „Scheiß egal“, schoss durch seinen Kopf, all die Nächstenliebe war plötzlich verschwunden, wie auch das Mitleid was er in solch einer Situation empfunden hätte, der Hass auf die Welt war zurück.
Er wandte sich ab, auch wenn ein Teil von ihm nicht aufhören wollte Farben zu sehen, entschied er sich doch wieder für das trostlose Grau. Sein Snapback schlug gegen das Fenster und wie erwartet war der Anblick genau der gleiche wie immer. Es war schon beinahe lustig wie alle versuchten stocksteif dazustehen, damit sie andere so wenig wie möglich berühren mussten. Niemand sprach ein Wort, wieso auch, wenn man sich schon die Beine in den Bauch stehen muss, dann kann man das auch Stillschweigend tun. Jeder Blick ging in eine andere Ecke des Raumes, denn Augenkontakt ist eindeutig zu Intim für einen grauen Menschen. „Fährt das Teil endlich mal?“, seine Ungeduld stieg, es war nicht so als würde er schnell in sein verhasstes Zuhause zurückwollen, er wollte einfach nur weg von ihr und sie einfach wieder vergessen. Ein Klopfen war zu hören. Bewegte sich der Zug endlich? Da war es wieder, „warte mal“, es kam von direkt hinter ihm. Er drehte sich um und ihm blieb der Atem stehen. Keine 30 Centimeter von ihm entfernt stand sie da, mit ihren großen, dunklen, braunen Augen in die er sich eigentlich verloren hätte, wären da nicht diese kleinen Falten an ihnen gewesen. Es dauerte einen Moment bis er realisierte, dass sie ihn anlächelte, nicht dieses Schauspieler Lächeln, was er selbst schon perfektioniert hatte, nein, ein echtes herzliches Lächeln. Es brachte kleine Grübchen auf ihren Wangen zum Vorschein. Sie leuchteten rot, vermutlich durch die Kälte, zumindest wirkte es so auf ihrer sehr hellen, beinahe makellosen Haut.
Das Gefühl grau zu sein wich einem anderem, etwas farbenfrohes durchströmte ihn mehr und mehr. Sekunde für Sekunde in der sie ihn einfach nur ansah spürte er etwas, etwas was ihm schon sehr lange gefehlt hatte. Freude. Das sie plötzlich ihre Augen zusammen kniff und ihm ihre Spitz geformte Zunge entgegenstreckte, machte es nur noch chaotischer. In diesem Moment wurde ihm bewusst, wie Arm an Emotion er geworden war, jetzt wo etwas so Simples ihm eine ganze Palette davon um die Ohren jagte und seine Augen vor Glück wässrig wurden. Ein Augenblick der am besten niemals vergehen hätte sollen. Ein Ruck und tosender Jubel rissen ihn aus seiner Traumwelt. Ihr Gesicht begann ganz langsam abzudriften. „Halt nein!“, stoß verzweifelt aus ihm hervor, er blickte sich um und suchte nach irgendeiner Möglichkeit zu verhindern was geschah aber es war einfach viel zu eng um sich überhaupt umzudrehen, geschweige denn den Not-Stopp am anderen Ende des Ganges zu betätigen. Verzweifelt drehte er sich wieder zum Fenster, wo sie immer noch auf ihn wartete. Sie ging langsam neben ihm her, während sie einen Füller gezückt hatte und sich etwas auf die Hand schrieb.
Er ahnte böses, er konnte sich jetzt unmöglich eine 10-stellige Handynummer oder ihren Wohnort merken. Voll konzentriert, bereit sich alles was es gleich zu sehen gab sich auf die Netzhaut zu brennen lies er sich durch nichts ablenken, nicht einmal durch ihr verspieltes tänzeln entlang des Gleises. Sie sah ihn an, es war soweit. In einer Bewegung griff sie sich an den Hinterkopf, drehte ihre Cap und streckte darauf gefolgt ihre Hand aus. 51.31 \ 0.7. Er wusste, dass diese Zahlenfolge sobald nicht aus seinen Gedanken verschwinden würde, aber er verstand erst später was sie zu bedeuten hatte. Genauer gesagt, als er sich endlich im Anschlusszug setzen konnte und dazu kam seinen Fund abzusetzen.