Tot geglaubt

Dieser Text beherbergt sexuelle Inhalte, lesen auf eigene Gefahr 🙂

Es war ein ganz gewöhnlicher Tag wie jeder andere. Patienten kamen, Patienten gingen. Viele jammerten über dies und jenes, ihre alten Knie, gebrochene Schultern oder kaputten Gelenke. Ein älterer Herr zog sich gerade in der Umkleide wieder seine Hose an und bedankte sich währenddessen Lautstark für diese wohltuende und freundliche Behandlung. Die Krux dabei, Röntgenstrahlung interessiert eine Jeans nicht sonderlich viel und selbst wenn, um einen Einblick in einen Knöchel zu bekommen tut’s hochkrempeln vermutlich genauso.
Im Wartezimmer verdrehten die eine Hälfte die Augen und die andere bekam außerhalb ihres Handys sowieso überhaupt nichts mit. Inmitten dieser bunten Ansammlung von Menschen ertönte eine Stimme die man gleichermaßen als freundlich sowie gelangweilt identifizieren hätte können. „Bitte die Nr. 43 als nächstes, danke“, sprach eine Stimme aus der halb geöffneten Tür der zweiten Umkleide in die Menge aus Leid und Gedankenlosigkeit. Die Stimme gehörte zu einer jungen Frau, mit dem Logo der Praxis in großen goldenen Lettern auf der Brust. Wenn ihr irgendwer ernsthaft in die Augen gesehen und hinter die freundliche Fassade blicken wollen würde, hätte man gemerkt wie sie diesen Job hasste. Ihre Arbeitsklamotten, dieses langweilige Polo, diese knallweiße Hose und diese zum Zopf gebundenen Haare entsprachen sowas von gar nicht ihrem Stil. Diese dauernden Berührungen der Patienten, die Art wie sie mit ihnen reden musste, die teilweise langen und langweiligen Pausen zwischen ihnen, alles daran ging ihr vehement auf den Geist. Es bezahlte ihre Miete und brachte essen auf den Tisch, aber Aufregung oder Begeisterung verspürte sie schon lange nicht mehr, sie wusste schon jetzt das nach ihrer Ausbildung Schluss mit diesem Ort sein wird. Allgemein fehlte ihr irgendwie die Spannung und der Nervenkitzel in ihrem Leben, aber wie sollte man sich von diesem miserablen Gehalt irgendetwas bezahlen?
Ihre Abwärtsspirale wurde abrupt von dem nächsten Patienten unterbrochen der auf der gegenüberliegenden Seite in die Umkleide trat und die Kapuze seines Pullovers weit über den Kopf gezogen hatte. Für einen Moment dachte sie einen Geist gesehen zu haben in dem Bruchteil einer Sekunde wo sie glaubte ein Gesicht erkennen zu können. Der Augenblick zog allerdings schnell an ihr vorbei, bei dem heutigen Andrang hatte sie keine Zeit zu verlieren und blickte auf die Patientenakte.
„Herr Müller ja? Schmerzen im rechten Knöchel, okey, okey. Bitte Schuhe und Socken ausziehen, alle metallischen Gegenstände vom Körper entfernen und einen Moment warten, ich hole sie gleich ab“, im selben Atemzug verlies sie auch schon die Umkleide.
Zügig setzte sie sich vor ihren Computer um die Daten auf zu nehmen und zu überprüfen. Sie konnte aber nicht umher das ihr irgendetwas entgangen ist, sie dachte wirklich für einen Moment das es er gewe.. „Schwachsinn“, sagte sie sich. Diese jugendlichen und jeder Anfang zwanzig rennt mit einem Hoodie rum und interessiert sich nicht dafür was andere Leute denken. Sie hatte sich das sicher nur eingebildet und redete sich jetzt irgendwelchen Unfug ein wegen etwas was sie für den Bruchteil einuner Sekunde zu sehen geglaubt hatte.
Sie schüttelte den Kopf um die Gedanken zu vertreiben, wobei sich Haargummi löste und davon flog.
Sie stöhnte auf, „ich hasse dieses Teil..“. Darum würde sie sich gleich kümmern, erstmal musste sie die Daten abrufen. Sie glich die Einträge des Computers mit dem der Akte ab.
„Martin Müller, check. 1,75m groß, geht sich hin, check. Wohnort stimmt auch überein, check. Geboren 13.12.1963, che…“, sie hielt inne. Ihre Gedanken überschlugen sich wieder, wer trägt mit 62 Jahren einen Kapuzenpullover? Sie schüttelte sich erneut, ihre Haare waren überall. Im Augenwinkel sah sie halb erblindet durch die Haare im Auge den Haargummi und ein paar Schuhe. Sie richtete sich halbwegs die Mähne und drehte sich mahnend um, „ich habe gesagt ich…“
Ihr verschlug es die Stimme. Geister wurden für einen Moment real. Mit einem Schlag wurde es schwarz.

Gleißend helles Licht drang durch ihre Augenlieder. Sie versuchte sie zu öffnen doch es war alles so hell. War das der Himmel? Nein. Der Himmel wäre nicht so kalt und ihre Schläfe würde nicht so schmerzen. Sie versuchte nach etwas zu greifen und sich von dem Licht ab zu wenden, ihre beinahe tauben Hände spürten lediglich etwas raues was sie fest über ihrem Kopf gefangen hielt. Sie konnte sich nicht bewegen. Plötzlich realisierte sie was passiert war, sie war an Händen und Beinen gefesselt und hing inmitten von irgendwo, Panik stieg auf. Von Adrenalin durchpumpt riss sie die Augen auf und sah sich um, alles um sie herum war Finster, außerhalb der Scheinwerfer eines Autos die sie blendeten. Jede normale Person hätte angefangen um ihr Leben zu schreien, doch nicht sie. Sie wusste, wer sich so eine Arbeit macht, hängt sie nicht inmitten einer dicht bevölkerten Wohnsiedlung auf. Ihre Gedankengänge wurde von einem ekelhaften Kratzen aus der Dunkelheit unterbrochen. Eine Gestalt trat aus dem nichts ins Licht und zog einen Stuhl hinter sich her, stellte ihn zwischen die Scheinwerfer und setzte sich. „Was soll die Scheiße, wer zum Teufel bist… nein.“, das Bild des Geistes schoss ihr durch den Kopf und verschlug ihr die Sprache.
Die Gestalt zündete sich eine Zigarette an und blies eine Rauchschwade in die Luft. Eine weiche, leicht kratzige Stimme durchbrach die Stille: „Ist lange her mh? Und dann gleich wieder in so einem gewohntem Szenario“. Ihr stellte es die Nackenhaare auf und die vorgetäuschte Ruhe wurde von sämtlichen Emotionen übermannt. Sie schrie, „hör auf mich zu verarschen! Was geht hier ab? Ich war auf seiner verfickten Beerdigung, das ist so richtig abgefuckt! Was willst du!“. Die Gestalt stand auf und kam ihr langsam näher, im leichten Licht der Zigarette erkannte sie ein Gesicht. Er war es wirklich, Tränen lösten sich aus ihren Augen. „Totgeglaubte leben bekannterweise am längsten“, lächelte er ihr spöttisch entgegen. Ihr Herz pochte so laut, dass sie seine Stimme kaum hören konnte, alles was sie fühlte war nicht das was jemand fühlen sollte der vor wenigen Stunden niedergeschlagen und entfuhrt wurde. „Ich war auf deiner Beerdigung…“, stammelte sie schluchzend.
Er grinste breit.
„Du warst auf EINER Beerdigung, mit einem Grabstein auf dem mein Name stand. Nach dem letzten Gig hat mir jemand gesteckt das die Bullen uns auf den Fersen sind. Du weißt ich sehe verdammt scheiße aus in Schwarz-Weiß gestreift.“
Sie versuchte die Bausteine in ihrem Kopf zusammen zu setzen doch es machte keinen Sinn. „Warum hast du nichts gesagt, warum hast du dich nicht gemeldet? Warum?“
„Sie haben in dem Feuer eine bis zur unkenntlich verbrannte Leiche und Rückstände von der Kohle gefunden, oder nicht? Weißt du wie viel ich diesem korrupten Schwein bezahlen musste damit er diese Vollidioten davon überzeugt, dass ich das Solo abgezogen hab? Der fährt jetzt Porsche nur mal so am Rande erwähnt.“
Sie verstand immer noch nicht. Wut zeichnete sich langsam als dominante Emotion in ihrem Chaos hervor. „Warum hast du dich dann nicht gemeldet du Wichser?“ Sein Grinsen verschwand und plötzlich klatschte es so laut das es von den Wänden wiederhalte. Für einen Moment war sie geschockt doch dann fiel ihr auf wie er sie an sah und das ihre Wange nur leicht und beinahe gewohnt brannte.
„Ich hätte mich gemeldet, Kleine. Aber weißt du wie lang die so nen Shit untersuchen? Und dann ist endlich alles ad acta gelegt und was sehe ich? Du hüpfst mit dem Feind ins Bett“, wutentbrannt nickte er mit dem Kopf über die Schulter. Am Rande des Scheinwerferlichts erkannte sie ihren gefesselten Freund.
„Und dann krieg ich über Umwege mit wie dich dieses Stück scheiße behandelt.“ Er packte sie am Hals und drückte zu, ihr Blick fokussierte seine tiefblauen Augen die ihr immer näher kamen.
„Also sag mir, wem gehörst du eigentlich?“ flüsterte er leise. Mit einem Satz drückte sie sich gegen seine Hand und zerbiss ihm die Lippe. Er wich zurück, fasste sich an den Mund und sah das Blut an seinen Fingern. Ihr Körper brannte, sie sah diese besondere Art der Wut in seinen Augen. Das Klatschen hallte von den Wänden erneut wieder. Bevor sie wusste was geschieht schmeckte sie Blut. Blut und Lust auf Lippe und Zunge.