Es war ein wunderschön sonniger Samstag, ungefähr um diese Zeit vor zwei Jahren. Kurz bevor es dunkel wurde, bin ich nach der Arbeit noch schnell ins Charlies um mich bei einem heißen Kaffee etwas aufzuwärmen. Charlie selbst hat mich noch gefragt, ob ich nicht lieber nach Hause wolle, da der Wetterbericht einen Schneesturm angekündigt hat. Ich muss gestehen, das ich es als Spinnerei eines alten Mannes abgetan habe, alle Winter, die ich von da wo ich herkomme, kannte, waren eher milde und ein bisschen Wind und Wetter hat mich noch nie wirklich gestört. Besonders war es so wundervoll draußen, keine einzige Wolke am Himmel, *es wird sicher nicht so Schlimm* dachte ich mir noch und hab mich gesetzt. Man kann sich irren, das liegt nur in der Natur des Menschen, aber das man so falsch liegen könne war schon beeindruckend. Jedenfalls saß ich dann da und habe Zeilen in meinen Laptop getippt, während ich die Welt um mich herum völlig ausgeblendet habe. Irgendwann stand dann Charlie neben mir und klopft mir auf die Schulter, weil ich anscheinend nicht zugehört habe. Mit seiner typisch schroffen Art sagte er dann nur was in die Richtung von „tja Junge. Das hast du jetzt davon, wenn du willst, kannst du hier schlafen ich hab noch ein paar Decken hinten“. Ich muss ihn völlig entgeistert angesehen haben, denn er deutete dann auf das Fenster hinter mir. Der Schneesturm war da und in meinen Augen war es eher ein „Schneearmageddon“, riesige Flocken flogen fast waagrecht durch die Straßen und ich konnte nicht einmal über den Fußgängerweg die Straße erkennen. Man konnte gerade noch so von Laterne zu Laterne die Lichter sehen und der Wind blies alles davon, was nicht halbwegs solide im Erdboden verankert war.
Ich saß also in einem Diner das mehr oder minder unangenehm nach altem abgestandenen Frittenfett roch und der Aussicht auf einer dieser eingesessenen und plastischen Bänke zu schlafen, wo an jedem Ende schon dieses uralte Material, woraus auch immer das Zeug besteht, herausquoll. Bei dem Gedanken, zum Einschlafen, entspannt die Kaugummis unter dem Tisch zu zählen kam schon etwas der Ekel hoch. Versteh mich bitte nicht falsch, Charlie ist ’n super Kerl, der Kaffee ist top und seine Sandwiches sind in einer eigenen Liga aber das mit der Sauberkeit hat er einfach nicht so drauf.
Jedenfalls habe ich dann dankend den Schlafplatz abgelehnt und hab mich auf den Weg gemacht. Charlie wollte mich natürlich nicht gehen lassen, „viel zu gefährlich!“-yadayada. Ich war noch nie bekannt für meine guten Entscheidungen, aber nach vielleicht zwei oder drei Schritten durch diese Eiseskälte und den peitschenden Wind wurde selbst mir klar, das dies vermutlich die beschissenste von allen war. Der lange Mantel, den ich damals trug, war ein perfekter Windfang und mein einziges Glück war, das ich in dieselbe Richtung musste wie der Wind. Vermutlich hätte es gereicht mich auf den Boden zu setzen und der Rest wäre von allein passiert, ich musste praktisch gesagt in einem 45 Grad Winkel nach hinten gebeugt gehen. Im Nachhinein betrachtet bin ich heilfroh, das mich kein Dachziegel oder so erschlagen hat, wenn ich so an den Tag danach denke. Es sah wirklich schlimm. Aber ich schweife ab.
Ich schleif’ da also so vor mich hin und rette mich von Laterne zu Laterne, voll konzentriert, um nicht die Orientierung zu verlieren, sonst hätte ich ein richtiges Problem gehabt. Zu dem Zeitpunkt habe ich grad einmal ein paar Monate hier gewohnt und war froh den Weg in die Arbeit und zurückzufinden.
Und dann war da plötzlich ein Geräusch mitten in den Böen. Ein kaum wahrnehmbares Heulen. Im ersten Moment dachte ich daran, das ich einfach nur nach Hause wollte, aber irgendwas in mir konnte nicht anders, irgendwie klang es wie ein flehendes Jaulen um Hilfe. Also bin ich hin und her um irgendwie einen Anhaltspunkt zu bekommen, wo es herkam. Ein paar Meter weiter fiel mir dann eine kleine Seitengasse auf und tatsächlich da irgendwo in dieser Finsternis zwischen den ganzen Tonnen musste der Ursprung dieses Jammerns sein. Ich hab mich dann durch den Müll gekämpft, der überall umher geweht wurde und fand dann unter ein paar Kartonagen ein kleines weißes Knäuel, das so fürchterlich zitterte. Über ihrem linken Auge hatte sie eine tiefe Wunde, die alles andere als gut aussah, sie musste irgendwas abbekommen haben. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, mein Puls war auf 180 und ich hab so gut es geht versucht die Wunde mit meinem Schal abzutupfen aber es hörte einfach nicht auf zu bluten. Ihr Heulen wurde immer schwächer und ich wusste das ich dieses kleine Wesen auf keinen Fall sterben lassen werde, egal was es mich kostet. Ich hab sie daraufhin in meine Jacke eingewickelt und rannte los. Ich konnte mich erinnern, das gegenüber von dem Laden in dem ich arbeite eine kleine Tierarztpraxis oder ähnliches war, da ich oft einfach nur am Fenster saß und die Menschen mit ihren Hunden beneidet habe. Der Wind peitschte mir ins Gesicht und ich glaube, ich hab noch nie in meinem Leben so gefroren, von Minute zu Minute wurde mein Körper immer tauber, aber vermutlich kickte dann mein eigener Überlebensinstinkt und trieb mich weiter. Es wären vermutlich zehn Minuten Fußweg gewesen, gedauert hat es mindestens 20 und angefühlt hat sich’s wie 40.
Natürlich hatte die Praxis nicht mehr offen, aber wenn irgendwer versucht deine Fensterscheibe einzuschlagen, dann bewegt man sich vermutlich doch mal aus der Wohnung darüber nach unten, um nachzusehen, was da los ist. Die Ärztin sah mich an als wäre ich direkt aus der Klapsmühle ausgebrochen, im Nachhinein kann ich’s ihr nicht wirklich verübeln. Ich hätte auch blöd geschaut, wenn inmitten eines Jahrhundertsturms ein halb erfrorener Typ in einem blutverschmierten Shirt auf meine Tür einprügelt. Erst nach vehementen flehen hab ich dann verstanden, dass dies alles für sie vermutlich gar keinen Sinn ergibt. Ich falte also meine Jacke auseinander und sehe im Bruchteil einer Sekunde wie sich ihr entsetzter Gesichtsausdruck in einen todernsten entwickelt. Diese Powerfrau macht einen Satz nach vorne, sperrt die Tür auf, lässt mich rein, nimmt sich vorsichtig meine Jacke und fragt mich Sachen als wäre ich gerade über eine farbenfrohe Blumenwiese spaziert um zu ihr zu kommen. Wie alt? Was ist passiert? Erkrankungen? Impfungen? Dies und das. Mir war zu dem Zeitpunkt einfach nur nach schlafen und ich hatte das Gefühl als würde ich gleich umkippen, ich habe einfach nur ein paar zusammenhangslose Wörter von mir gegeben, welche verzweifelt versucht haben die Situation zu erklären. Sie ging daraufhin irgendwo in ein Hinterzimmer und kam nur noch einmal kurz nach vorne um mir eine Decke ins Gesicht zu werfen. Ich lehnte mich einfach nur an eine Wand und sackte zusammen.
Ein paar Stunden später wachte ich dann unter Schlägen auf die Wange wieder auf. Sobald ich dann bei Sinnen war, erklärte sie mir was sie gemacht hat, das die Kleine viel Blut verloren hätte, ihr Auge nicht zu retten war und es sich herausstellen wird, ob sie’s überlebt. Ich durfte dann auf der unbequemsten Couch auf diesem Planeten schlafen, dagegen wäre eine Bank im Charlies vermutlich wie ein Federbett im 4 Seasons gewesen. Locker ein halbes dutzend Katzen versuchten mich vermutlich totzutrampeln in dieser Nacht. Es war definitiv eine Erfahrung. Jedenfalls. Ich kam dann täglich vorbei, um nachzufragen, wie es der kleinen ginge und nach ein paar Tagen kam mir die Ärztin dann mit ihr auf dem Arm entgegen und drückte sie mir in die Hände. Sie sprang dann wild mit dem Schwanz wedelnd in meinen Armen hin und her und schlabberte mein ganzes Gesicht voll. Ich hab mich sofort verliebt als ich in ihr wundervolles blaues Auge gesehen hab. Ich war überglücklich, dass es ihr besser ging und gleichzeitig auch unendlich traurig als ich sie der Ärztin wieder reichen wollte. Sie sah mich wieder an als wäre ich verrückt und sagte: „In ihrem Alter wäre sie schon längst gechipt, von den Flöhen und der allgemeinen Verfassung ihres Fells ausgegangen offensichtlich eine Streunerin ohne Zuhause. Lassen Sie mich eins sagen, bevor Sie den Kopf schütteln. Ich habe viele Hundebesitzer kennengelernt in meiner Zeit als Tierärztin. Viele die ihre Begleiter vernünftig umsorgen, einige die einen Schritt weiter gehen, wenige die sich ihre Identität um sie herum aufbauen. Aber in 35 Jahren habe ich nur einen Mann gesehen, der lieber erfroren wäre, als sie aufzugeben. Für mich gibt es hier keine Diskussion, also, wie wird sie heißen?“
Mir standen die Tränen in den Augen und ich antwortete nur kurz: „Winter. Sie heißt Winter.“