Die Nacht war still. Keine Menschen waren auf seinem Weg zu sehen, lediglich das Licht der Laternen spendete ihm Gesellschaft. Leichter Nebel hing in der Luft und verlieh seinem Pfad eine schaurige Stimmung. Er war völlig in Gedanken so, dass er fast in das Tor gerannt wäre das seinen Weg versperrte. Offensichtlich hatte er nicht erwartet, das es geschlossen wäre. „Hier ist doch normalerweise nie zu?“, sagte er leise zu sich selbst als er das große bronzene Schild las. Westwood Cemetery. Er sah sich um und betrachtete die brusthohe Mauer die das Gelände umringte. Einen kurzen Moment haderte er mit sich selbst, entschloss sich aber dennoch sich nicht aufhalten zu lassen, mit einem Satz stemmte er sich hoch und überquerte sein Hindernis. Der Nebel wurde immer dichter und in der Ferne war nur das Heulen von unterschiedlichen Hunden zu hören. Einen kurzen Moment hoffte er das es Invi gut geht und sie hoffentlich nicht wieder die Nachbarn und den Vermieter nervt. Umdrehen war keine Option, jetzt war er ja schließlich schon hier und er hatte ohnehin nicht vor lange zu bleiben. Auch wenn ihm selbst nicht klar war, warum er überhaupt hier her kam aber diese Frage stellte er sich schon lange nicht mehr. Der Weg war ordentlich gepflastert und er bahnte sich den Weg links und rechts durch die Grabsteine, zielsicher wo er hin musste, auch wenn der Nebel mittlerweile so dicht war das man maximal nur noch ein paar Meter sehen konnte. Die Szenerie ähnelte einem miserabel produzierten Horrorfilm, in einem Paralleluniversum wären die Toten an diesem Tag vermutlich aus ihren Gräbern empor gestiegen um jeden zu bestrafen der ihre Ruhe störte.
Er hielt inne, er war am Ziel und stand vor einem völlig ordinären Grabstein auf dem zwei Namen eingraviert waren. Frische Blumen lagen davor und er fragte sich wer diese wohl immer wieder vorbei brachte. Er begann die Taschen seines Mantels abzutasten bis er aus einer davon ein Grablicht heraus holte und aus der anderen ein Feuerzeug. Langsam ging er in die Knie und tauschte das Licht mit dem alten aus, verschränkte die Hände und begann zu beten. Für wenige Minuten stand er einfach nur nachdenklich da und betrachtete abwechselnd die zitternde Flamme und den Straus Rosen. Es war schon verwunderlich, es war nie die gleiche Sorte. Rosen, Lilien, Chrysanthemen in unterschiedlichen Mengen, Formen und Farben. Die Erde unter den Blumen war immer völlig locker als wären sie mit absoluter Vorsicht abgelegt werden. Zwischen der mysteriösen unbekannten Person und ihm bestand allerdings eine stille Übereinkunft, sie brachte die Blumen und er stellte immer eine neue Kerze bereit, wenn er vorbei kam. Still und heimlich hätte er nur zu gern gewusst wer es war, aber es war auch nicht weiter verwunderlich das sie sich nie über den Weg gelaufen sind. Wer geht denn schon freiwillig in den frühen Morgenstunden auf einen Friedhof?
Die Gedanken über Person X entflogen plötzlich seinem Kopf, Schritte näherten sich. Er starrte angespannt in den Nebel, gespannt wer noch dieselbe fabelhafte Idee hatte sich ein klein wenig zu gruseln. Es klang ganz nach nur einer Person, also konnte er eine Gruppe Jugendlicher schon einmal ausschließen.
Eine vertraute Stimme drang durch den Nebel: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das?“
„Lass mich raten, die Bibel? Ich wusste nicht das du religiös bist, Moon“, antwortete er lächelnd einem Strich von einem Mann der mit hinter dem Rücken verschränkten Armen durch die Nebelwand trat. Seine Erscheinung passte zu diesem Ort, eine äußerst schlanke Person, schlichte, ordentliche, gebügelte Kleidung, die Haare wie geleckt und eine Brille auf der Nase deren Gläser geformt waren wie Halbmonde inmitten eines strengen und emotionslosen Gesichts.
Moon antwortete mit seinem üblichen nachdenklichen Ton: „Johannes, Kapitel 11, Vers 25/26. Ich bin bekennender Atheist, das solltest du doch eigentlich wissen. Allerdings würde es an Wahnsinn grenzen sich mit der Geschichte der Welt zu befassen und dabei ein so fundamentales Schriftstück außer acht zu lassen, besonders eines welches soviel Leid und Schmerz über unseren Planeten gebracht hat.“
„Und um dich besser damit zu befassen dachtest du dir du betrittst geweihten Boden und liest hier ne Runde?“ Seine Frage war mit Absicht eher provokant, er wusste das Moon sonst in einen Monolog über Gott und die Welt abdriften würde und dazu war er gerade eindeutig nicht in Stimmung.
„Natürlich nicht, eigentlich hatte ich vor entspannt ein Buch zu lesen inmitten der wohltuenden Wärme meiner eigenen vier Wände. Auf dem Weg zu dem Teashop meines Vertrauens habe ich dann dich erspäht wie du mit gesenktem Blick in einen Friedhof einsteigst. Das hat schon etwas meine Neugierde geweckt muss ich gestehen.“, sprach Moon belustigt.
„Ist schon beeindruckend wie du nie in wenigen Worten antworten kannst, wie bist du überhaupt hier rein gekommen? Mit den Ärmchen seh ich dich nicht über eine Mauer klettern.“, antwortete er spöttisch.
Moons grinste plötzlich. „Mein alter, junger Freund!“, begann er und legte seine Hand auf seine Schulter, „ich habe meinen ganzen Grips zusammen genommen, mich konzentriert, wie du, über alle Möglichkeiten nach gedacht und dann einfach das Tor mit Telepathie geöffnet. In diesem Fall darfst du „Telepathie“ aber auch gern mit „die Klinke benutzt“ ersetzen.“
Er wurde rot und fasste sich an die Stirn: „Nicht dein ernst..?“
Moon lachte auf und wandte sich dem Grabstein zu. „Obligatorisch entschuldige ich mich für die Lautstärke an einem Ort wie diesem, auch wenn ich nicht denke das es die Maden hier interessiert. Also. Was treibt dich hier um? Ich bezweifle stark das es sich hier um Verwandte deinerseits handelt, wenn ich so über deine Herkunft nachdenke.“
Er wandte sich auch dem Grabstein zu. Sollte er es ihm erzählen? Er kannte Moon, er würde nicht locker lassen und schlussendlich würde er es den andern erzählen was heute passiert ist. Es war schon anstrengend genug von einer Person gelöchert zu werden, aber dann von allen vier? Da könnte er gleich wieder ins Sanatorium hoch fahren. Er bedachte seine Optionen und entschied sich für die Wahrheit.
„Das bleibt unter uns, versprochen?“, er streckte den kleinen Finger aus.
„Versprochen“, antwortete Moon und ging den Pakt ein.
„Das sind ihre Eltern. Ich habe anfangs gehofft sie irgendwann hier zu treffen, weil sie genauso eine Nachteule ist wie ich. Es kam nur leider nie dazu, verdammt, ich weiß nicht mal ob wir uns im selben Land befinden aber es hat mich immer und immer wieder hier her getrieben. Sie liebt Blumen und irgendwie hab ich daran geglaubt das die immer von ihr kommen. Ich frage mich jeden Tag wie es ihr wohl geht, was sie macht, ob sie glücklich ist, ob sie vielleicht manchmal an mich denkt. Ich habe hier endlose Stunden verbracht auf der Jagd nach einem Traum der nie in Erfüllung gehen wird. Ich habe hier gefroren, stand stundenlang im Regen und hab auch schon mal den Sonnenaufgang bewundert wie er sich da hinten langsam über den Horizont schleicht. Alles komplett sinnlos denn sie stand nie plötzlich neben mir. Irgendwann dachte ich dann die Hoffnung aufgegeben zu haben, ich dachte ich habe mich damit abgefunden sie nie wieder zu sehen und kam nicht mehr hier her. Der Alltag blieb allerdings der gleiche, immer und immer wieder tauchte sie in meinen Träumen auf. Irgendwann lief ich dann wieder hier vorbei. Obwohl ich ihre Eltern nie kennen gelernt habe fühlte es sich an als würde ich alte Freunde besuchen und irgendwie hat es das Chaos in meinem Kopf etwas beruhigt. Auf eine verrückte Art und Weise fühlte ich mich dadurch mit ihr verbunden und die Albträume wurden weniger. Jetzt komme ich jede Woche einmal her. Ich würde gern sagen aus Gewohnheit oder weil es etwas Frieden bringt, aber wenn ich ehrlich bin ist es einfach nur ein glimmender Funken Hoffnung in meinem Herzen.“ Er beendete den Satz mit einer Träne auf der Wange und die beiden starrten, für einige Momente, nur die flimmernde Flamme der Kerze an. Moon legte seine Hand wieder auf seine Schulter und sagte: „Wo Liebe ist, wird das Unmögliche möglich. In den dunkelsten Zeiten erhellt sie unseren Weg auf den sie uns erst selbst geschickt hat.“
„Ist das auch wieder aus der Bibel?“, antwortete er mit Tränen auf den Lippen.
„Nein, der eine Teil ist von Buddha, den anderen Teil hab ich dir dazu gedichtet. Mit bedauern muss ich feststellen das du heute leider nur meine Gesellschaft ertragen musstest aber vielleicht ist es nächste Woche ja anders, was denkst du?“
Er nickte zustimmend und hoffte nur das Moon wie immer Recht behielt.